Unsere Entschluss stand fest: Wir gehen nicht zur Wahl.
Gemeint war die Volkskammerwahl am 14. November 1971.
Ich studierte damals in Rostock Theologie.
Mit unserer zweijährigen Tochter lebten wir auf einem mecklenburgischen Dorf in zwei beheizbaren Dachkammern. Wasser holten wir im Sommer aus einem Wasserhahn auf dem Dachboden, der allerdings im Winter abgestellt wurde.
So holten wir uns das Wasser dann aus dem Erdgeschoss.
Gasanschluss gab es nicht.
Gekocht wurde auf einem alten Feuerherd oder einer Elektroplatte, bei deren Gebrauch regelmäßig die Sicherungen aus dem Sicherungskasten flogen.
Aber das war nicht der Grund, nicht zur Wahl zu gehen.
Denn immerhin ging es uns mit unseren Dachkammern wohnungsmäßig noch besser als anderen jungen Paaren, die wegen der Wohnungsnot, mit ihrem Ehepartner und ihrem Kind in einer Dreizimmerwohnung bei ihren Eltern und jüngeren Geschwistern leben mussten.
Wir lebten von der Unterstützung der Eltern, meinem Stipendium und von dem Geld, das ich durch Nachtwachen im Krankenhaus oder dem kellnern am Wochenende verdiente.
Und jetzt kam der Konflikt.
Meine Frau wollte wieder arbeiten, aber wir bekamen keinen Krippenplatz.
Unser Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, dass Theologie kein volkswirtschaftlich nützliches Studium sein.
Dafür mussten für die kleinen Kinder aus Offiziersfamilien die Plätze reserviert bleiben.
Die Männer verdienten zwar ein Vielfaches, von dem ,was ein Student verdiente, aber dafür waren sie volkswirtschaftlich nützlich.
So sprach die Staatspartei SED-und nur das war entscheidend.
Also gingen wir am 14. November 1971 nicht in das Wahllokal um zu wählen.
Das brachte uns gegen 15:20 Uhr schon den Besuch von drei Wahlhelfern ein, die uns aufforderten unserer sozialistischen Bürgerpflicht nachzukommen und zu wählen.
Wir erklären Ihnen unsere Gründe, die sie aber naturgemäß auch nicht überzeugen durften, denn sie sollten ja Druck aufbauen.
Meine Argumentation, dass ein Staat, der seiner sozialen Verantwortung nicht nachkomme für mich nicht wählbar sei, stieß auf taube Ohren.
Dafür machten sie uns aber auf die Konsequenzen unserer Wahlverweigerung aufmerksam, ohne diese näher zu erläutern.
Die erläuterte mir zwei Tage später der Rektor der Theologischen Fakultät in Rostock, die schon am Montag von unserem unsozialistischen Verhalten informiert worden war.
Der Theologieprofessor erklärte mir, dass ich jetzt endgültig den politischen Bogen überspannt habe, man nichts mehr für mich tun könne und sie der Exmatrikulation wegen sozialistischen Fehlverhaltens zustimmen würden.
Mein Rauswurf stand unmittelbar bevor.
Vorher hatte ich aber noch einen Anhörungstermin beim Rektor der Universität Rostock, der naturgemäß Genosse der SED war.
Das Gesprächsergebnis war für mich überraschend.
Meine Wahlverweigerung könnte er nicht entschuldigen und tolerieren, auch wenn meine Beweggründe für ihn verständlich seien.
Deshalb beließe er es bei einem Verweis, ich dürfte aber weiter studieren.
Da verstehe einer die Welt. Der Theologieprofessor ließ mich im vorauseilenden Gehorsam schon fallen, während der kommunistische Rektor versucht hatte mich zu verstehen und mich weiter studieren ließ.
Ich hatte Glück gehabt.
Bei anderen ging es nicht so glimpflich aus. Wahlverweigerung in der DDR Diktatur brachte politische Schwierigkeiten mit sich und bremste berufliche Weiterentwicklung und Karrieren.
Dabei gab es eigentlich bei keiner Wahl etwas zu entscheiden.
Denn nicht einzelne Parteien standen zur Wahl, sondern der Einheitsvorschlag der Nationalen Front, der von den Kommunisten aufgestellt worden war.
Damit waren auch alle Abgeordneten-gleich welcher Partei- in ihrem Abstimmungsverhalten an die politischen Vorgaben der SED gebunden.
Wahlkabinen waren zwar vorhanden aber ihre Benutzung wurde als Zeichen der Opposition zum System gewertet.
Deshalb nutze ich sie auch jedes Mal und strich akribisch jede Zeile des Wahlvorschlags mit meinem eigenen wasserfesten Stift durch.
Diese öffentliche Art der Ablehnung war meine selbstgenommene Wahlfreiheit.
Alternativlos bleiben wir immer nur dann, wenn wir nicht selbst auf die Suche nach Alternativen gehen.
Natürlich wurde jeder Benutzer der Wahlkabine aufgeschrieben und namentlich an die Partei und Staatssicherheit weitergegeben.
Diese werteten wiederum diese „unerhörten Vorkommnisse „mit den Betrieben der Betroffenen aus, die dann ihre Maßnahmen trafen.
Ich gehe nicht wählen, sagte mir eine ältere Frau aus Oybin, Ich gehe „falten“.
Sie meinte damit, in aller Öffentlichkeit den großen Wahlzettel zu falten und In die Wahlurne zu werfen. Das wurde als Bekenntnis zum Arbeiter-und-Bauern-Staat gesehen.
Aber, sagte ich – weil ich ihre politische Einstellung kannte- In Ihrem Alter können Sie doch auch ehrlicherweise die Kabine benutzen.
Sie lächelte. Nein, sagte sie ganz entschieden, die wollen betrogen werden, also betrügen wir sie.
Außerdem brauche ich immer noch den Reisepass um meine Enkel im Westen besuchen zu können, das ist das alles nicht wert.
So dachten viele.
Ganz offensichtlich wurde so auf beiden Seiten betrogen.
Viele Wähler mit vorgetäuschter Loyalität , der Staat mit der Fälschung der Wahlergebnisse .
Fast konstante Wahlbeteiligung bei 98 % und meist 99,7 % für den Kandidaten der Nationalen Front.
Nur Nordkorea hat bis heute bessere Daten.
Geradezu genial war 1989, als wir die Staatsmacht der DDR beim Wort nahmen und ihr bei der Kommunalwahl die Wahlfälschung nachweisen konnten.
Mit sehr viel Mut und persönlichem Einsatz.
Das war der Auslöser.
Es scheint in Vergessenheit geraten zu sein, dass die DDR –Diktatur gestürzt worden ist, weil wir freie Wahlen für ungeheuer wichtig hielten und nicht nur Stimmvieh für eine Diktatur sein wollten. Das war unter unserer –neu erwachten -Würde.
Auch deshalb gab es bei der ersten freien Volkskammerwahl am 18. März 1990 eine Wahlbeteiligung von 93 %.
Das war ein weitaus wichtigeres Zeichen als das Wahlergebnis selbst.
Das erste Mal nach langer, langer Zeit stand das Wahlergebnis nicht schon vorher fest und der Einzelne hatte das Gefühl, dass eine eigene Stimme wichtig ist und zählt.
Dieses Gefühl ist bei vielen verflogen.
Manche glauben, es kommt auf sie und ihre Meinung nicht mehr an.
Sie fühlen sich von der Politik nicht ernstgenommen.
Wobei in Wahlzeiten die einfallslosen Wahlplakate, die Verteilung von Kugelschreibern und Kondomen oder die „Drohung“ 5 Millionen Familien im Minutentakt zu besuchen, auch nicht den Eindruck verstärkt als Wähler besonders ernstgenommen zu werden.
Andere denken, es läuft auch ganz gut, ohne dass sie sich politisch einbringen müssten.
Das wäre nicht notwendig. Weil keine Not zu wenden ist?
Aber vielleicht sind wir auch im demokratischen Alltag angekommen und nehmen vieles für selbstverständlich, was sich eigentlich nicht von selbst versteht.
Es scheint, als ob sich die Gleichgültigkeit Bahn bricht.
Aber es ist nicht alles gleich gültig.
Wenn wir einmal über den deutschen Tellerrand in die Welt schauen, wo weiter „lustig „ Wahlen gefälscht werden oder Forderungen nach freien Wahlen im Blut erstickt oder die Menschen von Bomben im Wahllokal zerrissen werden.
Auf der einen Seite steigt bei allen Befragungen die Zufriedenheit der Deutschen mit der Demokratie (Im Osten 74 %/Im Westen 84 %) aber die Wahlbeteiligung sinkt.
Aber was ist denn die Demokratie dann noch wert, wenn Einige sich der wichtigsten Gestaltungsmöglichkeiten selbst berauben?
Natürlich verstehe ich den Ärger und den Frust, den der politische Tagesablauf manchmal auslöst.
Auch mir geht vieles zu langsam in den politischen Entscheidungen.
Obwohl ich natürlich weiß, dass man für politische Entscheidungen Mehrheiten benötigt und das Politik ein schwerer Karren ist, den man nur mit größten Kraftanstrengungen langsam in bestimmte Richtungen bewegen kann.
Trotzdem ärgern mich vertane Chancen.
Es ist wie im einfachen Leben- auch in der Politik gibt es keine Perfektion.
Selbst wenn einige Staatsdarsteller uns das immer wieder weismachen wollen.
Jeder, der lange verheiratet ist ,weiß, dass nur die tägliche Kompromissbereitschaft Tragfähigkeit herstellt, solange die Kompromisse für fair verteilt sind.
Das habe ich vor kurzem ein paar Jugendlichen gesagt, die überlegten ,ob sie überhaupt zur Wahl gehen sollen.
Meine Antwort war ziemlich klar.
Wenn junge Menschen nicht zur Wahl gehen, dürfen sie sich nicht wundern, dass die Interessen der jungen Generation nicht hinreichend berücksichtigt werden.
Es gibt nun einmal unterschiedliche Interessen der Generationen.
Aber wenn sie zur Wahl gehen, müssen sie schon wissen was sie politisch wollen.
Das bedeutet Nachdenken und Vorbereitung.
Nullbock und Nulltarif gibt es da nicht.
Politische Prozesse sind kompliziert und Politik und Presse kommen oft ihrer eigentlichen Aufgabe nicht nach, diese so verstehbar zu machen, dass der Einzelne sie versteht und mitreden kann.
Demokratie lebt aber von Verstehbarkeit und Durchschaubarkeit.
Klar, habe ich den jungen Leuten gesagt, ist ihre eigene Stimme nicht wahlentscheidend.
Es ist wie bei den ihnen vertrauten Flashmobs.
Auf einmal ist man erstaunt wie viele gehen und ähnlich denken und ähnlich entscheiden.
Sehr nachdenklich hat sie gemacht, dass die Nichtwähler die Prozentmarke zum Einstieg in die Parlamente für alle Parteien senken.
Dass die NPD in Sachsen im Parlament sitzt, verdanken sie ihren Wählern und den Nichtwählern.
Ohne die Nichtwähler hätten sie es nicht geschafft über die Fünf-Prozent-Hürde zu kommen.
Von daher ist Wahlverweigerung nie ein eindeutiger Protest.
Nur eine Verzerrung der politischen Realität.
Vielleicht sehen wir dann im Wahllokal, sagte einer der Jugendlichen und fügte grinsend hinzu, das könnte dann aber eine Stimme gegen Ihre Partei sein.
Ich grinste zurück: Aber eine Stimme mehr für wahrgenommene Demokratie!
Dann lachten wir – alle.
Heinz Eggert
Staatsminister a.D
Präsident der Fernseh Akademie
Mitteldeutschland e.V.
Academy for Television and Broadcasting Central Germany